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Grenzgängerin – wie ich mit Musik Borderline bekämpfe

Grenzgängerin – wie ich mit Musik Borderline bekämpfe

Lyo Novema
Grenzgängerin - wie ich mit Musik Borderline bekämpfe

Ich bin Schulabbrecherin. Viele Jahre wurde ich zwischen Arbeitsamt und Krankenkasse hin- und hergeschoben und schlitterte von einer depressiven Episode in die nächste. Die Musik hat mich dabei immer begleitet.

Mit 6 Jahren, als ich damals in einer katholischen Privatschule in Wien war, durfte ich meine Gesangsstimme bewusst entdecken. Ich sang im Schulchor und hatte erstmals Zugang zu unterschiedlichen Musikinstrumenten, die mich alle faszinierten. Von den Kastagnetten über die Triangel bis zur Blockflöte, machten sie mich bereits beim bloßen Anblick glücklich.

Damals wusste ich mit einer unumstößlichen Sicherheit eines Kindes: Ich will Sängerin werden. Ich will Musik machen.

 

Doch meine Eltern hatten einen anderen Plan

Nach 3 Jahren katholischer Privatschule zogen wir in einen anderen Bezirk um und ich kam in eine öffentliche Schule. Musik hatte an der neuen Schule keinen großen Stellenwert. Ich fühlte mich in meiner Kreativität, meinem Ausdruck beschnitten, fühlte mich zunehmend unwohl, nicht dazugehörig, was sich auch in meinen Noten widerspiegelte.

Ich wollte singen, tanzen, musizieren, aber das hatte keinen Wert. Mein näheres Umfeld konnte meine Liebe zur Musik nicht nachvollziehen.

Musik sei bestenfalls ein Hobby, aber doch kein richtiger Beruf.

In meiner Freizeit nutze ich dennoch jede Chance, um Musik zu machen und so war es auch nicht verwunderlich, dass ich im Chor der lokalen Kirche zu singen begann. Zu Weihnachten durfte ich sogar ein Solo singen – ich war so stolz.

Nach dem vierten Jahr Volksschule (Grundschule) kam ich in eine “Mittelschule”, eine Mischung aus Hauptschule und Gymnasium. Anfangs gefiel es mir dort. Die Schule war bunt, die Wände der Hallen und Gänge zierten Malereien von Schüler*innen. 

Besonders aber liebte ich: den Musikunterricht, der ab und an auch im sogenannten Bandraum stattfand:

Ein Raum, im Keller, voller Musikinstrumente. Es gab dort sogar ein Schlagzeug. Die Wände waren mit Eierkartons beklebt, was natürlich nichts brachte, denn die Musik tönte trotzdem laut in den Gängen der Schule. Ich liebte das.

Irgendwann in dieser Zeit bekam ich meine erste Gitarre. Sie gehörte ursprünglich meiner Schwester, doch sie fand wenig Interesse an diesem tollen Instrument.

Wie sehr ich sie doch für diese Gitarre bewunderte. Heimlich schlich ich in ihr Zimmer, setzte mich lautlos auf ihr Bett und öffnete langsam und behutsam die Tasche ihrer Konzertgitarre. Nur einen Spalt, nicht, dass sie herausfällt und kaputt geht. Langsam strich ich über die Saiten, immer und immer wieder und wünschte mir, sie würde mir gehören.

Ich beließ es dabei, schloss vorsichtig die Tasche und stahl mich wieder aus ihrem Zimmer. Doch meine Wünsche wurden erhört.

Die Gitarre meiner Schwester wurde meine. Von nun an musste ich nicht mehr heimlich in ihr Zimmer schleichen, sondern bekam sogar ganz offiziell Gitarrenunterricht. Ich liebte es.

 

Gedankenkarussell

Doch ein Gedanke ließ mich nie los und schien mit den Jahren sogar lauter zu werden: 

Ich bin nicht gut genug. 

Wie in einem Karussell kam der Gedanke immer und immer wieder. 

Ich bin nicht gut genug. 

Von außen, so schien es für mich, wurde dieser Gedanke bestätigt. Ich strebte danach dazuzugehören, ich wollte eine der beliebten Kids in der Schule sein, aber stattdessen wurde ich ausgelacht, ignoriert und gemobbt.

So sensibel wie ich war, konnte ich all diese Emotionen und Gedanken nicht mehr ertragen. Es wurde hässlich. Die ehemals bunten Gemälde an den Wänden der Schule wurden zu angsteinflößenden Fratzen in schwarz-weiß. Die Musik aus dem Bandraum dröhnte disharmonisch und das Gedankenkarussell drehte sich unaufhörlich weiter. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen und fing an, mich selbst zu verletzen.

Ich war nicht klug genug, nicht schlank genug, nicht gut genug.

 

Unaufhaltsamer Wille

Und trotz all der negativen Glaubenssätze hörte ich nie auf, Musik zu machen. Mit 14 Jahren begann ich, meine ersten eigenen Songs zu schreiben und gründete kurz darauf meine erste all-female-Punkrock- Band namens Sin Secret. Nicht verwunderlich, dass es in den Texten sehr gesellschaftskritisch und depressiv zuging. Von Anfang an schrieb ich meine Songs auf Englisch, zu groß war die Angst, meine Eltern könnten meine Texte verstehen.

Sinsecret.
Credits: harti_oberkofler

Ich sprach nicht über meine Emotionen, meine Gedanken und schon gar nicht über Mobbing. Ich schämte mich zu sehr.

Nach vier Jahren an dieser Schule musste ich mich entscheiden, welche höhere Schule ich besuchen sollte. Für mich war es glasklar: 

Ich will in eine Schule mit dem Schwerpunkt Musik.

Wieder einmal hatten meine Eltern andere Pläne. 

Denn: Musik ist ein Hobby, aber mit Sicherheit kein Beruf. Ich hatte nicht die Kraft, mich wirklich dagegen zu wehren. Ich weiß nur noch, dass ich in dieser Zeit mehr geweint hatte als es sonst der Fall gewesen war.

Nachdem ich versiert in Sprachen war, suchten wir zusammen eine Schule aus, in der ich meine Sprachkenntnisse zum Ausdruck bringen konnte. Es wurde eine höhere Lehranstalt für Tourismus und Wirtschaft im Zweig Eventmanagement.

Was nicht im Unterricht vorgesehen war: Musik. Bereits im ersten Jahr wurde mir mein Gedanke „nicht gut genug zu sein“, bestätigt. Ich bekam ein „Nicht genügend“ in Rechnungswesen. Ich weiß noch, wie ich unzählige Nachhilfestunden nahm und angestrengt versuchte, mir irgendetwas von dem zu merken, was man versuchte, mir einzuhämmern.

Den ganzen Sommer lang war ich mit diesem einem Fach beschäftigt, doch die Nachprüfung schaffte ich nicht. Ich frage mich bis heute noch wie, doch ich kämpfte mich weitere sechs Jahre durch diese Schule.

Das Einzige, was mich wirklich interessierte, war die Musicalgruppe, die ich als Freifach wählte. 

Ich liebte es, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, zu tanzen und zu singen. 

Ich fühlte mich zugehörig.

Ich fühlte mich gut. Doch es reichte nicht, mich aus meiner Depression zu holen.

Im letzten Schuljahr, kurz vor der Matura, brach ich schließlich die Schule ab.
Ich war ausgebrannt.

 

Dunkelheit

Hier verschwimmen meine Erinnerungen. Es muss zu dieser Zeit gewesen sein, als ich einen ersten Termin bei einer Psychologin hatte.

Diese diagnostizierte eine rezidivierende depressive Störung sowie eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung.

Nach meinem Schulabbruch versuchte ich mich in diversen (Mini-) Jobs wie Flyer verteilen, in einem dubiosen Outbound Callcenter als Agent oder als Angestellte im Solarium. Schließlich fand ich einen Job im Einzelhandel bei einem renommierten Unternehmen, welches vor allem für seinen Kaffee bekannt ist. Es war eine gut bezahlte Arbeit und ich verstand mich super mit meiner Vorgesetzten und meinen Kolleginnen.

Ich liebte es nicht, aber es war okay. Doch nach drei Jahren schlichen sich immer wieder Gedanken rund um die Musik ein. Hatte ich meinen Traum vergessen? Hatte ich überhaupt aufgehört zu träumen? Hatte ich resigniert?

Da mich diese Gedanken nicht losließen, kündigte ich und fiel abermals in ein dunkles, kaltes Loch. 

Ich bin nicht gut genug.

Irgendwann fing ich an, zu grübeln. Durch meine Schulbildung konnte ich nicht nur meine Englischkenntnisse verbessern, ich lernte auch, wie man Events veranstaltete. So zog es mich in die Veranstaltungsbranche und ich begann, Underground-Konzerte und -Events zu veranstalten. Es gefiel mir so gut, dass ich mich nach Weiterbildungen in diesem Bereich umsah.

 

Lyo Novema. Foto von Lyo Novema. Credits: Thomas Reiter

Ein neuer Weg

Schließlich traf ich die Entscheidung, eine diplomierte Ausbildung im Eventmanagement an einer Privatakademie zu beginnen.

Plötzlich war ich Einser-Schülerin und schloss vier Semester in einem Jahr ab. Kurz darauf begann ich ein Praktikum in einer Wiener Booking Agentur, was mir die Rutsche für einen Job in einem großen Unternehmen in der Musikbranche legte.

Ich fühlte mich gut, ich fühlte mich sogar zeitweise gut genug. Das änderte sich nach etwa eineinhalb Jahren, als meine Vorgesetzte wie aus dem Nichts begann, mich zu beschimpfen, zu diskreditieren und zu mobben. Ich blieb, denn die Jobs in der Musikbranche sind rar. “So ist sie halt, nimm’s dir nicht zu Herzen.” – der O-Ton in diesem Unternehmen.

Die Spitze des Eisbergs war sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz durch einen externen Fotografen. Ich meldete den Vorfall sofort meinen Vorgesetzten per Email. Die erste Nachricht kam von meiner Chefin: “Tja Lyo, da bist du selber schuld, wenn du so kurze Röcke trägst.”

Ich brach zusammen, aber an viel kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich alles liegen und stehen gelassen habe und gegangen bin. Ich kündigte einvernehmlich.

Die Zeit danach war geprägt von Aufenthalten in der Psychiatrie, unzähligen Therapien und Aufarbeitung. Noch nie war etwas so schmerzhaft und heilsam zugleich. 

Meine Diagnosen wurden erweitert, darunter auch die emotional instabile Persönlichkeitsstörung Typ Borderline. Ich erfuhr erstmals, dass es einen Begriff für das gab, wie ich mich fühlte:  Borderline, ich bin eine Grenzgängerin.

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Der Begriff wurde früher als Grenze zwischen Neurose und Psychose definiert. Heutzutage geht man nicht von einer Verwandtschaft zur Schizophrenie aus.

Mit dem Begriff “Borderline” können sich Betroffene, wie auch ich, trotzdem gut identifizieren, denn es bedeutet auch “auf der Grenze gehen” – wie ich es auch in meinem gleichnamigen Song beschreibe, mit “between love and loneliness” (z.d. zwischen Liebe und Einsamkeit)

 

Lyo Novema. Foto von Lyo Novema.

 

Empfehlung für Borderliner*innen

Eine Therapieform hat mir besonders geholfen: Die “Skills-Therapie”. Diese Therapie ist speziell für Borderliner*innen gemacht und hilft, Emotionen besser verstehen und regulieren zu können.

Zum einen gibt es eine Stress-Skala, anhand derer man für sich selbst erkennen kann, in welchem Stress Stadium man sich gerade befindet. Ab 70 % befindet man sich im sogenannten Hochstress, welchen es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Im Hochstress geht nichts mehr und genau dann fangen Borderline-Patient*innen an, sich selbst zu schädigen, um diesem Zustand zu entfliehen.

Um gar nicht erst in den Zustand des Hochstresses zu gelangen, gibt es sogenannte “Skills”, also Fertigkeiten, die den emotionalen Stress senken.

Die Liste an Skills ist lang, beinhaltet zum Beispiel lesen, Handarbeit, malen, meditieren oder Musik machen. Ich habe mich in vielem probiert, doch was mir am meisten hilft ist, meine große Liebe: die Musik. 

Musik ist vielfältig und beinhaltet viele „Skills“, die ich mir im Laufe meines Lebens zusammengetragen habe.

Für mich fügt sich jetzt alles zusammen. Die Erfahrungen durch jahrelange Therapie und Selbstreflexion werde ich nutzen, um anderen Menschen zu helfen, sich selbst und ihre Stimme zu finden. 

Während meiner Ausbildung zum Vocal Coach, welche im September startet, suche ich auch noch Menschen, die bereit sind, ihre Stimme zu erheben. Die Stunden sind kostenlos, bis meine Ausbildung abgeschlossen ist. Kontaktaufnahme via Profil.

 

 

 

Tipps für Borderliner*innen – wohin wenden? 

Österreich

144 – Rettung: auch ein psychiatrischer Notfall ist ein Notfall.

Alle Institutionen zur psychischen Gesundeit

Empfehlung, während man Z.b. auf einen Therapieplatz wartet: Borderline Selbsthilfegruppe ANDERERSEITS

Institut für Psychotherapie mit Tageszentrum für Borderlinestörung Wien

 

Deutschland

Zentraler Notruf

Polizei: 110
Rettungsleitstelle: 112
Ärztlicher Bereitschaftsdienst: 116 117
Du wirst automatisch und kostenlos zur nächsten Diensstelle weitergeleitet.

Weitere Anlaufstellen findest du hier:

Leben mit Borderline

Borderline Forum | Selbsthilfeforum

 

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