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Kinder mit besonderen Bedürfnissen fordern uns heraus, zu besonderen Eltern zu werden!

Kinder mit besonderen Bedürfnissen fordern uns heraus, zu besonderen Eltern zu werden!

Eva Herzog
Kinder - The Bold Woman

Keine Angst vor der Begegnung mit den eigenen Gefühlen

Ich sitze neulich im Auto auf dem Weg nach Hause, nachdem ich meinen Sohn Leon (9 Jahre) wieder ins Pflegeinternat nach Hinterbrühl (Niederösterreich) zurückgebracht habe. Die ersten fünfzig Kilometer sind ein Ausloten meiner Gefühle, ob ich es endlich schaffen würde und das Loslassen nicht mehr so weh tue. Doch spätestens zu Hause holt mich die Leon-Zurückbring-Traurigkeit ein und ich kann nur mehr unter Tränen den Einkauf einräumen.

Ich sehe überall (zu Hause) seine Bilder hängen, allein oder mit seinen Geschwistern – ein fröhlicheres und herzlicheres Kind als meinen Leon gibt es wohl kaum. Auch seine beiden Geschwister Anja (5 Jahre) und Jan (18 Jahre) lieben ihn sehr, sind aber von seinem schwierigen Verhalten genervt. Es fällt schwer zu begreifen, was Leon dazu treibt, von einer Sekunde auf die andere plötzlich zu schreien, sich selbst zu verletzen, Sachen willkürlich zu zerstören oder völlig impulsgesteuert Aktionen zu starten ohne jegliches Gefahrenbewusstsein für sich selbst als auch für andere. Leon braucht nach wie vor Windeln und macht keinerlei Anstalten, auf das Klo gehen zu erlernen. „Leon braucht eine Aufsichtsperson nur für sich allein, und die treibt er – so lieb er ist – in den Wahnsinn“, war der Tenor von den Pädagogen.

Leon hatte als Baby nach der ersten Impfung monatelang gekrampft. Danach ging die Suche nach einer aufschlussreichen Diagnose und dazu passenden Therapien los. Eine richtiggehende Odyssee! Sieben Jahre (!) dauerte es, bis ich folgenden Befund bekam: ADHS, sensorische Integrationsstörung, Intelligenzminderung, Myopie, Enuresis, Enkopresis, deutlich beeinträchtigtes psychosoziales Funktionsniveau und überfordernde Erziehungssituation. Es tut weh, das als Mutter zu lesen, offenbar unfähig zu sein, das eigene Kind zu erziehen!

Raus aus der Opferrolle

„Stopp! Raus aus der Opferrolle“, sage ich mir dann immer. Es ist völlig in Ordnung, emotional zu sein.

Wie viele Familien es mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen gibt, wurde mir erst in meiner Arbeit als systemischer Coach und als “Patchworkexpertin” bewusst.
Das Leben in einer Patchworkfamilie, in der mindestens ein Kind von einem vorigen Partner stammt, stellt oft das Leben aller Beteiligten auf den Kopf und verlangt ihnen alles ab. Ist dann auch noch ein Kind mit speziellen Bedürfnissen dabei, dann steigen die seelischen und körperlichen Belastungen der (Stief-)Eltern ins Unermessliche.
Meine eigene Familiengeschichte führte mich schließlich dazu, mich speziell solchen Familien zu widmen. Hier kann ich helfen, die Hintergründe für spezielle Familienkonstellationen zu erforschen und das Leiden zu minimieren.

Ich fragte mich immer wieder, was wohl meine Lernaufgabe aus all dem sei. Das ist meine bisherige Erkenntnis:

Leon hat meine Gefühlswelt völlig durcheinander gebracht. Es gab Zeiten in meinem Leben, da fühlte sich alles leer in mir an. Ich konnte nicht weinen. Es war, als wäre ein Schalter vor langer Zeit abgedreht und vergessen worden, ihn wieder zu aktivieren.

Durch diese intensiven Erfahrungen als Mama war es plötzlich möglich, in kürzester Zeit ein Gefühlspotpourri von Ohnmacht, unbändiger Freude, Trauer, Dankbarkeit, Verzweiflung, Wut und inniger Liebe zu durchleben.

Mein Herz war nun offen, die seelischen Narben für alle Welt sichtbar. Ich fühlte mich verletzlich und angreifbar. Aber gleichzeitig war ich mir noch nie so sicher, was meine Lebensaufgabe anbelangte. Ich hatte absolut keine Lust mehr auf meine Arbeit als taffe Juristin. Ich wollte nur mehr als Coach für Familien da sein, als Unterstützung für Kinder und Jugendliche. Das war mir nach den ersten Lebensjahren von Leon bewusst – ich konnte und wollte nicht mehr in meinen alten Beruf als Juristin zurückkehren.

Meine neue Profession

Bereits 2009 hatte ich mit einem Team von Mediator*innen (Verein Vermittlungsexperten.at) Workshops für Schulen ausgearbeitet, um Kindern zu zeigen, wie man es schaffen konnte, mit den Herausforderungen des (Familien-) Lebens zurecht zu kommen. Das Konzept der „Mediativen Friedenspädagogik“© war geboren, das die Eigenverantwortung, die Selbststärkung von Kindern und Jugendlichen zum Ziel hat.

Unser Auftrag war es, mit „schwierigen Klassen“ zu arbeiten, in Konflikten zu vermitteln, Klassenregeln mit ihnen gemeinsam zu erstellen, damit das Lernen (wieder) funktionierte. Ich sprach mit ihnen über Inhalte aus meinen Managementkursen wie der Bedürfnispyramide nach Maslow und das „Dramadreieck“, die ich ihnen altersgerecht aufbereitete, da ich mir selbst dachte: Hätte mir das nur jemand schon als Kind gesagt, hätte ich viel besser mit meinen Problemen umgehen können!
Und ich traf damit den Nagel auf den Kopf: Sie stiegen sofort darauf ein und waren so bei der Sache, dass sie oft auf ihre Pausen vergaßen. Sie saugten alles wie ein Schwamm auf. Endlich durften sie über ihre Probleme reden und erkannten dabei, dass es vielen ihrer SchulkollegInnen ebenso erging – was oft der Auslöser für Mobbing war, weil sich Gleiches anzieht.

In der Klasse war ich eine von ihnen, saß auf den viel zu kleinen Stühlen in der Grundschule unter Acht- bis Neunjährigen. Ich erzählte ihnen eine Story nach der anderen – wahre Geschichten von SchülerInnen, die ich kannte und die es geschafft hatten, ihre Ängste zu überwinden und sich selbst zu stärken! – Sei es im Falle von Mobbing in der Schule oder zu Hause bei der Scheidung der Eltern, beim Verlust eines Elternteiles oder dabei, einen neuen Papa/ eine neue Mama zu bekommen.

Wenn sie mich dann fragten, was mich denn traurig mache, erzählte ich ihnen meine Geschichte mit Leon. Sie spürten es sowieso und ich wollte ihnen nichts vorspielen, denn mir ist Authentizität wichtig. Ich fühlte mich verstanden und dankte ihnen auch dafür. Ich merkte, dass sie es nicht gewohnt waren, dass man auf dieser Ebene mit ihnen sprach.

Für mich war die Zeit gekommen, meine Erfahrungen und all das Erlernte als Trainerin und Coach umzusetzen.

Mit diesen Erfahrungen wurde es für mich ein absolutes Muss, in meinem Leben selbst umzusetzen, was ich in meinen Workshops zum Besten gab und Authentizität zu leben!

2017 war es dann soweit. Ich hatte das Gefühl, all meine Ausbildungen, all meine Erfahrungen allein dafür gemacht zu haben, um für diesen Lebensmoment gewappnet zu sein:

Leon loszulassen und extern betreuen zu lassen, war ein (überlebens-)wichtiger Schritt, weil unsere (Patchwork-)Familie, vor allem ich selbst sonst daran zerbrochen wäre. Es war die schwierigste Entscheidung meines bisherigen Lebens.

 „Du hast noch nie um mich geweint!“, schmollt Leons kleine Schwester Anja, wenn sie merkt, dass in meinen Augen wieder mal die Fischchen am Schwimmen sind, wenn ich an Leon denke. „Nein, Schatzi, weil du Gott-sei-Dank immer bei mir bist.“ Das scheint die aufkommende Eifersucht meiner kleinen Tochter nicht zu schmälern. Oje, ich kann ihr das so gut nachfühlen.

Mir ging es als Kind genauso: Mein jüngerer Bruder war als Kleinkind in ein Heim gekommen. Ich konnte das als Sechsjährige nicht einordnen, weil niemand mit mir darüber gesprochen hatte. Ich ertappte mich dabei nachzudenken, was ich jetzt fühlen sollte. Ich war schockiert über mich selbst, da ich mich freute, meine Mama jetzt alleine für mich zu haben (was ja nicht der Fall war, weil sie emotional in ihrem Scheidungs- und Pflegeschaftskampf so eingebunden war, dass ich oft das Gefühl hatte, in ihren Augen kaum zu existieren). Andererseits hatte ich ein schlechtes Gewissen und war unendlich traurig. Also wurde ich zur unkomplizierten, braven Evi, die gut lernte, um der Familie nicht zusätzliche Probleme zu bereiten. Bei den aggressiven Stiefvätern nicht aufzumucken wurde zum Überlebenstraining. Dieses angepasste Verhalten rächte sich dann in der Pubertät, wo ich mit Depressionen kämpfte.

Heute kann ich meine Mutter bis zu einem gewissen Grad verstehen: Es ist verdammt schwer, bei all seiner Trauer (die meine Mutter nie zugelassen, geschweige denn sich selbst zugestanden hatte) sich entsprechend um andere Kinder zu kümmern und mit der ganzen Aufmerksamkeit bei ihnen zu sein.

Dadurch, dass mir meine kindliche Gefühlswelt noch so präsent ist, kann ich meinen Klienten Feedback aus der Sicht ihrer Kinder geben mit dem Ergebnis: Entscheidungen zu treffen mit Weitsicht und Nachsicht. – Das Loslassen spielt dabei eine entscheidende Rolle!

Jedes Kind mit besonderen Bedürfnissen (oder was als „schwierig“ bezeichnet wird) hat eine besondere Aufgabe in seiner Familie.

Kein Kind hat die Absicht, mit seinem Verhalten die Familie zu zerstören oder andere zu schädigen! Es fällt oft schwer zu verstehen, dass diese Kinder etwas Bestimmtes aufzeigen sollen (alte belastende Muster, ein Unrecht) oder andere dazu bringen, etwas Bestimmtes zu lernen – in der Kernfamilie, aber auch in der Patchwork-Konstellation.

Sie fordern durch ihr „Anderssein“ sich selbst und alle Familienmitglieder heraus, besondere Fähigkeiten zu erlernen oder besondere Eigenschaften zu entwickeln, die sie schließlich in ihrer seelischen Entwicklung weiterbringen. In unserem Fall ist es die Geduld und das Loslassen.

Als mir von allen Seiten dringend nahegelegt wurde Leon in ein Pflegeinternat zu geben, bäumte sich alles in mir auf. Ich hatte das Gefühl als Mutter versagt zu haben.

Lerne Hilfe anzunehmen!

Mein Mann und ich wussten zwar, dass es die einzige Möglichkeit war, unsere Familie zu retten. Aber es kam mir vor, als ob ich ein Kind opfern müsste, um die beiden anderen Kinder und meine Beziehung zu retten!
Dass solche Situationen leider häufiger in Patchworkfamilien vorkommen, erfuhr ich später in meiner Arbeit als “Patchworkexpertin”. Umso besser kann ich mich in die Betroffenen einfühlen und ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Im Nachhinein betrachtet war es ein Wunder, dass unsere Beziehung dies überlebt hatte.

Alle körperlichen und seelischen Schmerzen, alle Schwierigkeiten lehrten uns, als Paar Klartext zu reden, sprich „bedürfnisorientiert zu kommunizieren“. Hätten wir uns damals keine Hilfe geholt, wären wir sicherlich nicht mehr zusammen. Das Gespräch mit Experten über die schier ausweglose Situation zu führen, einen Perspektivenwechsel zuzulassen, hat unser Drama schließlich relativiert. Ich erkannte, dass Leon nicht leiden würde und dass ich mich nicht aufopfern müsse.

Es ist, was es ist!

Je früher ich mich damit abfinden konnte, dass mein Kind kein normales Leben führen würde, desto früher konnte ich mich auf das Wesentliche konzentrieren, nämlich dass wieder Ruhe in unsere Familie kommt. Es war klar, dass wir weit davon entfernt sein würden, eine normale Familie zu sein. Aber was ist schon eine „normale Familie“? (Ich las einmal, dass jede 2. Familie gröbere Probleme hätte. Also so etwas Besonderes sind wir gar nicht …)

Ich musste dahinter kommen, wie ich Leon unterstützen konnte und mein Leben wieder in den Griff bekam.

Es ging schon lange nicht mehr darum, sich nur mit seiner Behinderung abzufinden. Ich sah einfach den Sinn nicht dahinter, wieso Leon sich selbst und allen, die ihn lieb haben (einschließlich seiner Betreuer), das Leben mit seinem Verhalten so schwer machte – durch seine Autoaggressionen und indem er durch die skurrilsten Aktionen ständig Aufmerksamkeit einfordert, selbst wenn man schon völlig erschöpft ist.

War ich doch im Grunde davon überzeugt, dass alles im Leben seinen Sinn hatte. Nur hier war ich mit meinem Latein am Ende.

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Ich hatte bereits mehrere systemische Familienaufstellungen gemacht und jetzt erstmals auch ein Seelenplan-Reading (Lesen in der Akasha-Chronik) zu dieser Situation.

Was ich dabei über Leon erfuhr, überwältigte mich: Leon kannte meine Ängste um ihn, auch dass ich mir Vorwürfe machte, nicht alles für ihn getan zu haben. Für ihn gäbe es keine Schuld, nur pure Liebe. Auch solle ich meine Schuldgefühle endlich ablegen. Ich wäre genau richtig für ihn. Er sei dankbar dafür, mich als seine Mama zu haben. Er hätte sich dieses Leben genauso ausgesucht, um in seiner seelischen Entwicklung weiterzukommen. Obwohl es ihn schmerzte, sich selbst so einzuschränken, sei er zufrieden mit seinem Leben.

Die Lernaufgabe für ihn selbst und seine Familie sei die Geduld! Aber auch zu vermitteln, dass Menschen mit Handicap vorurteilslos angenommen werden sollen.

Speziell mein Mann hatte oft Probleme damit, wenn Leon wieder etwas in unserem Haus zerstörte, hinter diesen Aktionen keine schädigende Absicht zu sehen: „Er ist wie ein Tyrann, der unser Leben bestimmt. Das ist purer Egoismus!“ Doch ich schaffte es letztendlich (mit Hilfe des Readings), ihm zu vermitteln, worum es Leon wirklich ging und wie sein Verhalten zu verstehen sei. Da erkannte auch er Leons wahren Kern und seine tiefe Liebe, die er ausstrahlt! Jetzt schafft er es, sich zurückzunehmen, wenn Leon zuhause ist und seine „Sponpanadln“ (wienerisch für „fragwürdige Aktionen“) anstellt.

Das hat mir bestätigt, dass Leon mich als seine Übersetzerin braucht – für die Menschen in seinem Umfeld und alle sozialen Einrichtungen, wo Kindern wie er leben.

Ich weiß jetzt, dass ich nicht versagt habe und all das seinen Sinn hat. Diesen gilt es herauszufinden. Vor allem sich selbst die Erlaubnis zu geben, das Leben wieder zu genießen. Das wünscht sich Leon von mir, das wünschen sich unsere Kinder generell von uns Eltern!

Ihr Leiden ist für sie sinnstiftend, nicht sinnlos. Das soll von uns Eltern auch so verstanden werden.

In Dankbarkeit habe ich erkannt, was meine Aufgabe ist. Ich hoffe von Herzen, dass mich das Leben dorthin stellt, wo meine Hilfe benötigt wird. Und dass es Menschen gibt, die bereit sind diese Hilfe auch anzunehmen!

Hast du auch eine Story, die es wert ist erzählt zu werden? 

Hast du etwas richtig tolles erlebt, etwas was außerhalb deiner Komfortzone lag und das nicht 0815 Status Quo war? Willst du damit mal so richtig auf den Tisch hauen und allen Menschen zeigen, was eine Powerfrau in dir steckt?

Und vor allem andere Frauen damit inspirieren?

Oder aber du hast eine schwere Zeit durchlebt, hast alles überstanden und stehst jetzt mit erhobenem Kopf da. Willst du anderen Frauen zeigen, dass alles möglich ist, egal wie ausweglos eine Situation erscheinen mag?

Wir glauben: 

Every Woman has a Story. 

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View Comment (1)
  • Liebe Eva,
    ich finde Deine Geschichte sehr bewegend und sie zeigt mir sehr eindrucksvoll, wie wichtig die Einsicht und die Offenheit von Eltern und Erwachsenen den Kindern gegenüber ist. Ich finde es wunderbar, dass Du aus Deiner Lebensgeschichte und der “Behinderung” Deines Sohnes so eine tolle Arbeit für Familien und Kinder ins Leben gerufen hast. Ich kann regelrecht spüren, wie dankbar Deine KlientenInnen für Deine Unterstützung sind. Vielen Dank, dass Du das mit der Welt teilst und vielen Anderen damit die Inspiration und den Mut gibst, dass es immer einen Sinn hat und auch eine Lösung gibt, vorausgesetzt man möchte es! Danke…

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